Man nimmt sich die Zeit, oder man verliert sie




Ich parkte mein Fahrrad wie immer unter dem Begonienfenster
Der Regen hatte viele rosa Blütenblätter
auf dem Pflaster unter dem Fenstersims verteilt
wahllos, trunken und feucht
Die Schanktür stand weit offen
Der August zeigte sein gewittriges Gesicht
ein Gesicht voll Launenhaftigkeit
zwischen Sonnensprenkeln und ernsten, grauen Wolkentürmen.
Als es das erste Mal schneite, dachte das Kind
es wüsste, was Schnee ist
Als der junge Mann das erste Mal liebte, dachte er
er würde die Liebe bereits kennen.
Ich saß übervierzig an der Theke des Kaffeehauses
am selben Platz wie immer, so dass ich den Eingang
und die gesamte Bar in meinem Blickfeld hatte
Ich hatte es mir angewöhnt, das Angenehme
mit dem Nützlichen zu verbinden
Am späten Nachmittag fuhr ich mit dem Rad Einkaufen
und nach allen Erledigungen setzte ich mich ins Kaffeehaus
blickte in die Runde
lächelte die Bedienung an
nickte dem Barkeeper zu, der schon wusste, was ich trank
...
Als er das erste Mal in seiner Jugend Alkohol trank
dachte er, er wisse, was es mit dieser Flüssigkeit auf sich hat
welche er golden in vielen Gläsern an der Theke trank
Dem ersten Rausch folgten unzählig viele mehr
als Lieben seiner ersten Liebe folgten
und mehr Schnee als dem Erleben des ersten Schnees
folgte
jedenfalls in den Breiten, wo er wohnte.
Ich nippte wie immer genussvoll am Bier, legte eine Lektüre
zurecht, um ein paar Seiten zu lesen
und in den Pausen blickte ich wie hypnotisiert in den Schankraum
fasziniert von den verschiedenen Wirklichkeiten
die sich ergaben.
Der ergraute Mann kämpfte noch immer um die eine
erste Liebe
die längst erloschen wie in einem Gletscher unter vielen Eisschichten
konserviert lag
wie die Blütenblätter der Begonie draußen
veredelt durch eine ferne Vergangenheit
Jede neue Verliebtheit holte sie ihm zurück und machte
den Traum wahr
für ein paar Tage, Wochen , Monate ...
wie immer
bis die Schneeschmelze einsetzte
die Jahreszeiten naturgemäß ineinander übergingen
und sich wie Spaziergänger flüchtig begrüßten
er selbst seine Gewohnheiten entwickelt hatte.
Ich klappte das Buch zu
Die Theke hatte sich mit Gästen gefüllt, welche mir
unangenehm körperlich und mit Stimme auf die Pelle rückten
Eins würde ich aber noch trinken, dachte ich
nach einem prüfenden Blick auf die Armbanduhr
...
Warum sollte nicht alles flüchtig sein wie die Jahreszeiten
und im steten Wechsel passieren?
In seinem Beruf war er dem Tod und Sterben hundertfach begegnet
es ließ sich auf keine Formel bringen
alles wiederholte sich lediglich mit ähnlicher Mimik
wie die Jahre
gleich einer Spirale auseinandergezogen werden
Manchmal dachte der älter werdende Mann an der Theke
die Spirale würde sich in einem Kreis des Lebens
zusammenfinden
aber diesem Gedanken sollten noch viele ähnliche Gedanken folgen.
Ich spürte, dass meine Zeit an der Theke langsam ablief
meine Blicke wurden matt, und die Unruhe wuchs
aufbrechen zu müssen
Mein Schlachtross wartete unter dem Begonienfenster
wo ich es, wie mir schien, vor Jahren
geparkt hatte.





11.08.2006 19:58 von bonanza

casy (Gast) - 08.02.2007 01:04

in diese gedicht habe ich mich einst verliebt.....

bonanzaMARGOT - 08.02.2007 12:07

es ist eine wunderbare erfahrung, wenn ich als dichter/künstler solche starken gefühle beim leser auslösen kann.

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