Träumer




Er hatte einen Wahn.
Er griff zum Telefon und
wählte eine Nummer.
"Sag mir, dass ich was ganz besonderes bin!"
rief er in die Muschel.
Er spazierte in den Wald,
in menschenleere Zonen;
er schaute zu den Wipfeln empor und
schrie wie ein Irrsinniger.
Wenn er in der Kneipe saß, verwickelte
er die Bedienung in ein Gespräch.
Er hörte sich reden und wartete auf einen
Satz der Anerkennung.
Er schrieb Gedichte, die in seinem Regal
verstaubten.
Die Gedichte zeugten von seiner Lethargie und seinem Wahn.
Er hatte seit Jahren keine Frau geliebt.
Er strengte sich nicht an auf dem Gebiet.
Außerdem war er außer Form.
Er lebte zurückgezogen und war nicht gerade
glücklich,
aber auch nicht unglücklich damit.
Er wollte schon immer was ganz besonderes sein.
Er fühlte sich wie eine leere Batterie, die von
Elektrizität träumt.
Die Post, die er erhielt, und die Telefonanrufe waren
dienstlich.
Manchmal meldeten sich auch seine Eltern.
Er mochte seine Eltern, aber er war zu sehr in seinem Wahn,
so dass ihm niemand wirklich wichtig war.
Er fragte nach dem Sinn des Ganzen und kam dabei
nicht weiter.
Er wurde älter.
Er wurde vorsichtiger.
Darum schenkte er sich nicht mehr so viel nach, wenn
er trank.
Er konnte seinen Wahn nicht loswerden, um einfach
zu leben, wie er die Anderen leben sah.
Er war nicht gerade glücklich,
aber auch nicht unglücklich damit.




(01.10.00)

LadylikeKandis - 20.03.2009 16:28

wie sieht es jetzt aus, fast zehn jahre später?

bonanzaMARGOT - 20.03.2009 19:43

bewegt. etwas mehr leben. weniger abstürze.
LadylikeKandis - 20.03.2009 19:45

das machen die erfahrungen und das alter.
bonanzaMARGOT - 20.03.2009 19:54

klar, man wird etwas "stabiler".
LadylikeKandis - 20.03.2009 20:01

und weiser..;-)
sehnsuchtistmeinefarbe (Gast) - 20.03.2009 19:28

wahn... hm. welcher wahn denn?

bonanzaMARGOT - 20.03.2009 19:41

der wahn anders zu sein.
SehnsuchtistmeineFarbe - 20.03.2009 21:21

wieso wahn anders zu sein?

das verstehe ich nicht. der träumer fühlt sich ungeliebt und nicht (an-)erkannt. (vielleicht liebt er sich selbst zusätzlich auch nicht genug).

ich war mal so frei und habe dein gedicht gekürzt. ich hoffe, das durfte ich. der wahn hat mich darin gestört. ich empfinde es in diesem zusammenhang als einen akt der selbstbestrafung. das soll nicht sein. jemand, der verletzt ist, sollte sich nicht noch mehr verletzen.

ich hoffe und wünsche dir, dass die wunde etwas geheilt ist.

dein gedicht gefällt mir. es berührt mich. die sehnsucht darin und die traurigkeit berührt mich.
...

Träumer

Er griff zum Telefon und
wählte eine Nummer.
"Sag mir, dass ich was ganz besonderes bin!"
rief er in die Muschel.

Er spazierte in den Wald,
in menschenleere Zonen;
schaute zu den Wipfeln empor und
schrie wie ein Irrsinniger.

Wenn er in der Kneipe saß, verwickelte
er die Bedienung in ein Gespräch.
Er hörte sich reden und wartete auf einen
Satz der Anerkennung.

Er schrieb Gedichte,
die in seinem Regal verstaubten.

Er hatte seit Jahren keine Frau geliebt.
Er strengte sich nicht an.

Er lebte zurückgezogen
und war nicht gerade glücklich,
aber auch nicht unglücklich.

Er wollte immer was ganz besonderes sein.
Er fühlte sich wie eine leere Batterie,
die von Elektrizität träumt.

Die Post, die er erhielt,
und die Telefonanrufe
waren dienstlich.

Manchmal meldeten sich auch seine Eltern.
Er mochte sie,
aber niemand war ihm wirklich wichtig.

Er fragte nach dem Sinn des Ganzen
doch er kam nicht dahinter.

Er wurde älter.
Er wurde vorsichtiger.
Er schenkte sich nicht mehr so viel nach,
wenn er trank.

Er konnte nicht einfach leben,
wie die Anderen.

Er war nicht glücklich damit,
aber auch nicht unglücklich.

.
bonanzaMARGOT - 21.03.2009 07:22

vielen dank liebe sehnsuchtistmeinfarbe, dass du dich mit dem gedicht so intensiv auseinandergesetzt hast.
natürlich darfst du es für dich lesen, wie du es umgeschrieben hast.
mir fehlt in deiner fassung der fluss, auch durch die absätze.
und für mich war es wichtig, die authentizität zu bewahren, also wie ich es vor ca. 9 jahren schrieb.
ich lebe ganz gern allein, aber allein leben heißt nicht unbedingt einsamkeit. damals fühlte ich mich wirklich etwas einsam.
ich fragte mich, wo meine gefühle sind, die man ja erst richtig im sozialen kontext wahrnehmen kann. vielleicht ist das auch der wahn - diese einsamkeit und eine teilweise autistische sicht auf die welt.
das trinken spielt bei diesem rückzug aus der welt auch eine große rolle.

und auch: leben wir nicht alle in einem wahn? ich meine, jeder in seinen wünschen, träumen von wirklichkeit ...?
ist es nicht vielleicht lediglich der unterschied, wie tiefgehend wir es wagen, in uns und in das "sein" zu schauen?
(du erinnerst dich an das gedicht "der fragende mensch")
es ist nicht leicht eine maß-balance für sich zu finden. wir sind eben nicht herr über unsere gefühle, und wir sind auch nicht herr über unser schicksal. wir träumen. wir sind träumer und denker.
wir denken uns die welt zurecht. aber die welt ist ganz anders. sie ist anders, als wir sie uns denken können.

wir leben in unserer einbildung und in unserem wahn.
der wahn ist schon eine zentrale aussage in dem gedicht.

herzlichen gruß
bon.
elke66 - 21.03.2009 11:57

eine batterie die von elektrizität träumt, das gefällt mir...

elke66 - 21.03.2009 12:01

traum ist für mich nicht gleich wahn. mir gefällt die fassung von sehnsuchtistmeinefarbe... deine bon ist mir zu starr, lässt zu wenig eigene lesearten zu, außerdem ist dieser wahn so wie ich ihn bei dir lese eine wertung und das mag ich nicht in gedichten... eigentlich mag ich das nirgendwo
bonanzaMARGOT - 21.03.2009 13:35

elke66, in gewisser weise ist der traum wahn, denn traum ist ebenfalls einbildung, und einbildung is etwas wähnen - man darf den wahn nicht nur als krankhafte ausbildung des menschlichen geistes verstehen.
das lyr-ich des gedichts ist in gewisser weise gefangen in seinem traum - beinahe bis zur erstarrung.
du findest das gedicht zu starr ... okay - es ist ein prosagedicht, wie ich sie oft schreibe. ich möchte gar nicht die interpretationsvielfalt regelrechter lyrik beanspruchen.
"der wahn ist eine wertung" - klar, außer den naturwissenschaften, kenne ich keine plattform, welche ohne wertungen wäre.
ich wüßte nicht, wie man gedichte schreiben ... bzw. künstlerisch ohne wertung tätig sein könnte.

bei gedichten ist es nunmal so, dass man nicht immer zur situations- und gefühlswelt des autors durchdringt. manchmal reicht es schon, teilessenzen für sich herauszuziehen, damit ein gedicht einen persönlichen wert bekommt. sehnsuchtistmeinefarbe schrieb das gedicht für sich um ..., und das finde ich toll, dass mein gedicht sie dazu anregte.
texte sind so gut, wie sie es schaffen, den leser ein stück weit gefangen zu nehmen, nicht nur in der völligen akzeptanz zu dem geschriebenen.

elke66, danke auch für deine meinung, "wertung" zu diesem gedicht.

bon.
elke66 - 21.03.2009 18:14

ja okay. ich glaube ich habe den rüffel verstanden. ich revidiere das dann mal und sag, dass mich manche dinge eben ansprechen und andere weniger. aber bei meiner meinung, dass es verdammt schade ist, dass wir nicht ohne wertungen auskommen bleibe ich.
bonanzaMARGOT - 21.03.2009 18:37

aber wertungen sind doch bestandteil unserer empfindungen.
eine welt ohne wertungen wäre eine "tote".
ich habe etwas gegen "bewertungen" z.b. von leistung und talent oder von kunst, welche für sich objektivität und allgemeingültigkeit beanspruchen.

war kein ruffel, elke66.
SehnsuchtistmeineFarbe - 21.03.2009 19:08

nein,

wertungen sind nicht bestandteil unserer empfindungen. wertungen sind bestandteil unserer gedanken. und genau diese abspaltungen, abgrenzungen sind beispielsweise lt. krishnamurti (ind. philosoph und weisheitslehrer) der anfang/beginn allen unglücks. der geist trennt, was zusammengehört durch kategorisierung.
und wahn ist eine bezeichnung aus der psychologie. eine kategorie. ein stempel. und kein positiv connotierter.
ich sehe träume nicht als wahn an. auch nicht als einbildung. traum ist wunsch und wunsch ist nicht gleich wahn. jedenfalls für mich nicht.
finde dein gedicht in meiner version dennoch flüssig bon. die absätze trennen es nicht zwingend. sie ermöglichen eine atempause, durchatmen, sacken lassen. die strophen lassen luft...
und zum thema wertung...was ist mit der philosophie? ist sie nicht ohne wertung? das absichtslose betrachten? dinge in ihrem wesen erkennen.
eine welt ohne wertungen wäre eine tote? äh? hä? :) meinst du das ernst?
bonanzaMARGOT - 21.03.2009 19:58

sehnsuchtistmeinefarbe, ich gebrauchte den begriff wahn nicht im kontext der psychologie - bestenfalls in anlehnung an sie. mein gedicht ist ein gedicht und keine seminararbeit.
der wahn steckt in allem, da wir durch unser gehirn ständig interpretieren. die welt, die wir wahrnehmen, ist eine eingebildete - abgebildete.
der wahn ist auch ein stück wahnsinn. (die welt ist wahnsinn.)
und natürlich geht alles durch die emotionale wertungsmühle, wie wir situationen, menschen und z.b. orte, kunstwerke, musik etc. empfinden. die gedankliche wertung ist bereits rationalisiert eine "bewertung". das darf man bitte nicht durcheinander schmeißen. bewertungen sind ergebnisse von rationalem, zielgerichteten denken, während wertungen an sich ständig in uns stattfinden.

traum ist nun ein begriff, der auch mannigfaltig benutzt wird. in meinem gedicht ist der träumer ein mensch, gefangen in seinem persönlichen wahn. er träumt sich wahnweise aus der welt, was natürlich nicht funktioniert - auch nicht mit drogen und alkohol.
er gerät in eine spirale emotionaler leblosigkeit.

es sei mir gestattet, sehnsuchtistmeinfarbe, dass ich mein gedicht auf meine weise lese, wie es dir gestattet ist, es für dich und dein denken zu verändern, und es anders zu lesen.

gruß
bon.
SehnsuchtistmeineFarbe - 22.03.2009 07:35

guten morgen lieber bon,

natürlich ist es dir gestattet, dein gedicht so zu lesen und zu deuten, wie es dir beliebt und behagt. gar keine frage!
ich hatte deine antwort als "allgemeine aussage" aufgefasst, und nicht als aufs gedicht bezogen und eben darauf reagiert.

mir ist der begriff "wahn" lediglich aus dem kontext der psychologie geläufig und bekannt. es sieht aus, als hätte ich diesbezüglich eine andere meinung als du. ist doch spannend, oder? :-)

dieses "werten" und "bewerten" ist eine gängige praxis, der sich nicht alle menschen anschließen.

jetzt habe ich wieder allgemein geantwortet.
komm gut durch den sonntag.
lg s.
bonanzaMARGOT - 22.03.2009 14:28

natürlich denken wir bei wahn allgemein an eine psychische störung.
ich meinte ja nicht, dass ich in dem gedicht ganz was anderes sagen wollte - nur eben nicht ganz speziell im fachterminus - weitergefaßt halt.
wie so gar nicht einfach aber selbst der fachterminuns zu erklären, zu deuten ist, dazu ein link, wenn`s dich interessiert: http://www.psychosoziale-gesundheit.net/seele/wahn.html

und was das werten/bewerten angeht: ich glaube eben nicht, dass wir ganz wertfrei unsere umwelt wahrnehmen und denken/reflektieren können. in den wissenschaften basteln wir uns methoden, um eine möglichst unbefangene, reale sicht mit weiterem erkenntniswert zu gewinnen. wie schwierig das ist, zeigt die methodenlehre, wenn man sich mit ihr z.b. im rahmen eines psychologiestudiums befasst.
schwierig bedeutet aber auch spannend.
ich sehe es wie du: meinungsdispute bei gleichzeitiger toleranz und offenheit sind äußerst spannend.

gruß in deinen sonntag.

bon.

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