Fremd / Körper




Es nieselt in mein Bier. Mir fehlen nicht nur die Worte auf Französisch. Mein Wortschatz ist stümperhaft. Ich sitze zur Hälfte unter der blauen Markise und schaue auf einen Felsen, der wie ein alter, verwitterter Knochen aussieht, grün bewachsen. In den Stein gehauene Treppen und Wege machen ihn begehbar. Bunte Trüppchen von Touristen wandern durch den angelegten Felsengarten. Ich möchte mir keine Gedanken um den Sinn dieser Aufführung machen - wie der Fels, das Meer und der Himmel vor mir liegen, wie ich halb unter der marineblauen Markise sitze, und es in mein inzwischen leeres Bierglas nieselt. Die Menschen um mich herum sind dreidimensionale Leinwandfiguren, deren Berührung mit mir so oberflächlicher Natur ist, dass ich sie überhaupt vergesse. Die Heimat weit hinter sich gelassen, gewinnt das Gefühl deutlichere Konturen, auf der Welt nur ein Fremder, ein Tourist zu sein, der nichts versteht, und der nicht verstanden wird.
"Je veux une bière encore."
Das Bier läuft meine Kehle kalt hinunter. Es ist mir am nächsten mit seinem Hopfen- und Malzgeschmack. Wind und Sonne machen mich Blinzeln, die Menschen machen mich Schauen und Hören. Der Törn in die Fremde ist konsequentes Allein-Sein mit sich selbst. Nie wird man deutlicher auf die Einsamkeit seines Herzens zurückgeworfen als im Niemandsland der Beziehungen und Freundschaften; nie ist die Sehnsucht nach Nähe und Wärme eines lieben Mitmenschen größer ...
Es bleibt die endlose Nacht der Einsamkeit - das Leben ist ein bedeutungsloser Tagtraum, der traute Heimathafen eine blasse Fiktion. Wo ist meine Wirklichkeit? Das Allein-Sein als Medizin? Eine bittere Medizin, die eine Windstille in mir bewirkt, welche die krampfige, zerklüftete Oberfläche bügelt und tiefer liegende Landschaften und Stoffe hervorbringt: ich schaue auf subtilere Regionen meiner Seele.
Ich erfahre seltene und kostbare Zustände der "Seelenunruhe".

/

Ich bin ein Körperfetischist, und damit liege ich ja im Trend. Geistig faul verwende ich alle Energie auf die Schmuckheit meines Körpers, meiner Gestalt. Ich habe ein masochistisches Wohlbefinden, wenn ich bis an den Rand der Erschöpfung im Schwimmbecken Bahnen ziehe. Ich spüre alle meine Muskelfasern und Gliedmaßen - ich werde ganz Körper und räkele mich anschließend eitel in der Sonne. Zum Selbstbeweis für die Potenz meiner physischen Realität ist mir die regelmäßige Plackerei im Nass zur Notwendigkeit geworden. Oder: Ich schwimme um mich und die alltäglichen Sorgen ganz und gar zu vergessen, und entsteige mit einer satten, nihilistischen Selbstzufriedenheit dem Bade. Welch erquickende Gehirnwäsche, Labsal für meinen leeren Kopf! Warum nicht ein wenig Körperfetischist?
Andere holen sich ihre Befriedigung durch "Beruffamilienfreundeskreisverkehr" und blutsaugenden Opportunismus - aber solche kleinbürgerlichen, spießigen Gesinnungsmaßstäbe würden mich auf kurz oder lang umbringen. Die kollektiven "Verdummungseinheiten" unterminieren jeglichen Freiheit.
Meint ihr , dass ich Blödsinn rede?
Liebe Brüder und Schwestern, Spartaner der Fitnessstudios und Marathonläufe, Lustmolche, Alkies, Kiffer und Rumdrücker, Samstagnachmittagsautopolierer, Kirchbankwetzer und Kanzelverächter - oh! - ihr versammelten Geisteskranken und Seelenklempner, ihr armen Kirchenmäuse und Geldschwangeren, ihr Milliarden Tentakel der Gattung Mensch ... - wie oft furzen wir uns ins Gesicht? Wir übertünchen unsere Missetaten und Lügen, doch es bleibt der Verwesungsgestank unserer Ausscheidungen - durch die Nase ziehen eine Menge Erinnerungen hoch in die abgenutzten, rostigen Behältnisse menschlichen Denkens.
Es lebe die Seelenreierei! Und die Reinwaschung ... - als Kopfsprung?
Man muss die Form wahren. Sehr wichtig: glattrasiert. Habe ich nicht einen kleinen Bauch gekriegt? Die Hosen müssen passen - eigentlich ein Arschfetischist. Schwimmen ist optimales Arschtraining. Es stärkt das Selbstvertrauen, "Arschvertrauen".
Unter Menschen: Bademode ist Arschmode. Hochgeschnittene Teile. Schnürsenkel halten ein kleines Dreieckssegel. Im Wind. Gegenüber den blanken Mondhälften. Rasierst du deine Muschi? Ästhetik vor blauen Kacheln. Ich schaufele mich an ihnen vorbei mit keuchendem Atem. Links. Rechts. Die Brille ist beschlagen. Die Luft in der Halle warm und dick: Eine Note Schweißfuß in Chlor getränkt. Diffuses Sonnenlicht durch die angelaufenen Scheiben mischt sich mit dem künstlichen Beckenlicht zur dschungeldichten Brühe. Sicht annähernd Null. Wenn ich nicht blitzschnell ausweiche, ist ein Zusammenstoß unvermeidlich. "Tschul - di - gung", pruste ich hervor. Und weiter geht`s im Trainingsprogramm: Noch zwanzig Bahnen.

Von der Fitnesswelle erfasst: Liebe deinen Körper wie dich selbst. Bestelle deinen Garten. Beackere ihn. Hast du gute Erde? Humus, Humanität, Humtata! Mit wehenden Fahnen stramm stehen. Strammer Arsch macht geil.
Halte dir die Nase zu, wenn du zum Kopfsprung ansetzt ...




(ca. 1986)

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