Das Badewasser ist wie immer zu heiß
Als ich heute alte Zeitdokumente im Fernsehen sah
wurde mir mit einem Mal bewusst, was ihnen fehlte
Gerüche!
der Geruch der Menschen, der Stadt, der Straßen, Automobile
der Geruch von Churchills Zigarre
der Geruch des Himmels, der Erde, des Abwassers in den
Kanalisationen
die Parfums der Damen und Herrschaften
der Geruch der Arbeiter in ihren Overalls
Maschinenöl und Gummi
anders als heute
damals roch das Zuhause anders
ich bin sicher, es roch strenger
Die Eisenbahnen schnaubten und spuckten
Autos schwankten in den Kurven wie zu Wasser gelassene Rettungsboote
Motorräder knatterten
Menschen blickten unter Mützen und Hüten hervor
die Unterhosen hatten einen Eingriff
die Damen waren gut erzogen
aber im Bett nicht weniger leidenschaftlich – als heute
sie rochen stärker nach Frau
und der Krieg roch wie der kratzige, steife Uniformstoff
in die Schützengräben verliefen sich Katzen
die Milch schmeckte noch nach Milch
und die Kartoffeln, die Mutter auf dem Gasherd kochte
rochen wir noch nach Stunden in der Küche
sonntägliche Familienausflüge waren heilig
Vater schnitzte uns Kindern Messer und Flöten aus Haselnussruten
ich roch das frische Holz und den Wald
ich roch den Schoß der Mutter und ihre weiche Brust
ich roch die kräftigen Arbeiterhände des Vaters
Die Welt damals drehte sich schwarz-weiß
Freitags lief der „Kommissar“
Samstags wurde gebadet
das Badewasser war immer zu heiß
die Familienausflüge am Sonntag waren heilig
und Montagfrüh vor Schulanfang weckte uns der Vater und
schmierte Marmeladebrote
wie gerne roch ich den Kakao, die Butter
und das Erdbeergelee
meine Zeit ist die Zeit meiner Eltern und Großeltern
meine Zeit füllt das ganze 20ste Jahrhundert
meine Zeit beginnt etwa bei Bismarck
als noch Pferdekutschen über den Alexanderplatz holperten
mit Döblin, Remarque, Oskar Maria Graf, Fallada
Klaus Mann ging ich ins 20ste Jahrhundert
Tucholsky, Kästner
um die wichtigsten zu nennen
ich denke unwillkürlich an ihre Bücher, wenn ich wie heute
alte Zeitdokumente sehe
Jahrzehnte verdichten sich zu Minuten
wie aneinandergedrängte graue Mäuse, die einem imaginären
Ausgang entgegeneilen
hat die Geschichte einen Ausgang?
wo sind die Gerüche dieser Tage, Monate und Jahre geblieben?
Meine Zeit begann vor meiner Geburt
und auch die Sehnsucht
zwischen Buchdeckeln auf unzähligen Seiten zu lesen
eingerahmt in Fernsehbildern schwarz-weiß
zu glotzen
die Stimmen tönen manchmal knisternd und alt über den Äther
in den Archiven stapeln sich die Film- und Tonbandspulen zum
Himmel
einige digitalisiert und aufbereitet
um die längst vergangene Vergangenheit kurz aufblitzen zu lassen
und mit einem Mal wurde mir bewusst, was diesen
Zeitdokumenten fehlte
die Gerüche!
Ich bin ein Kind des 20sten Jahrhunderts, und ich hoffe, ich rieche
danach
denn heute gefällt mir nicht, was ich rieche
darüber werde ich irgendwann ein anderes Gedicht schreiben
Monate, Jahre werden schwarz-weiß vergehen
die Geschichte sucht ihren Ausgang
das Badewasser ist wie immer zu heiß
und sind Vater und Mutter erst mal tot
dann
...
28.01.2006 17:22 von bonanza
bonanzaMARGOT - 09.03.2007 14:06