Rückgrat versus Hinterrad




ich hab`s immer gewußt:
das Drumrumgelabere verschleißt die gesamte Kreativität
gestern brachte ich mein Fahrrad zur Reparatur
weil die Hinterachse gebrochen war
oder wenn Sie so wollen die Hinterradachse
futsch!
futschikako!
es krachte wie die Sau, und alle paar Meter
schlackerte das Rad wie besoffen
nun, es reicht, wenn der Fahrer besoffen ist, oder?
und das alles, weil mich eine doofe Kuh angefahren
hatte
sie war vielleicht Anfang 20
Sonnenbrille, Handy an der Muschel
oben links
dumm wie Brot, hatte nichts mitgekriegt
sagte, ich solle mich nicht so anstellen, es sei
doch nichts passiert
die telefoniert bestimmt auch beim Ficken
dachte ich
und wenn der Typ über ihr fertig ist, sagt sie:
"Oh, kannst du noch etwas länger, ich muß Vanessa
noch von meinen neuen Schuhen erzählen ..."
oder so ähnlich
eine Tussi, wie sie im Bilderbuch steht
sie steuerte einen dieser Geländewagenverschnitte
mit denen in amerikanischen Krimis die Cops
Gangster jagen
wahrscheinlich die Karre ihres Alten
scheiße, ich wollte eigentlich bloß eine Entschuldigung
dafür, daß sie mich anfuhr
aber weil sie pikiert und wie doof in dem Blechhaufen
sitzen blieb, begutachtete ich mein Rad
und meinte, daß sie mir etwas schuldig wäre
ich wußte da noch nichts von meinem Achsschaden
die Achse war wohl erst angebrochen
nichtsdestotrotz
ich ärgerte mich über die Arroganz dieser Hohlbirne
in dem dicken Auto
nach wenigen Minuten kam ihr Vater zu Fuß
er mußte in der Nähe wohnen
und fotografierte mein Fahrrad von allen Seiten
die Tussie war noch immer nicht ausgestiegen
als ich sagte, ich würde ihr die Rechnung schicken,
meinte sie, es gäbe keine Zeugen
Aussage stände gegen Aussage
und der Alte von ihr meinte lapidar:
"Alles über den Rechtsanwalt ..."
tja, da hatte ich wohl ausgeschissen
die Bullen würden mir auch nicht weiterhelfen
zumal ich bereits einige Bier intus hatte
gedemütigt und mit einer Mordswut im Bauch setzte
ich meine Fahrt fort
zwei Tage später brach die Achse

und was sagt uns das?

ich bin ein Weichei

ich hätte diese handymanische Tussi aus ihrem Wagen
zerren sollen, um ihren verwöhnten kleinen Arsch
zu vertrimmen
als dann ihr Vater die Szene betrat, hätte ich gesagt:
"Ich habe Ihnen gerade etwas Arbeit abgenommen ...
scheinbar macht Geld blöd, oder sind das Ihre Gene?"
und nach einem lapidaren
"Fuck you!"
wäre ich auf meinem Drahtesel
davongeflattert

yeah

nicht erst seit diesem Vorfall weiß ich, daß Drumrumgelabere
die Kreativität verschleißt
der Punkt ist ja, daß die Tussie eine arrogante, dämliche
Fotze war
und ich den Schwanz einzog
Beschwichtigend sage ich mir:
die Achse wäre früher oder später sowieso gebrochen
außerdem hast du dich moderat und vernünftig verhalten
du bist nunmal kein Rocker sondern
ein sensibler, nachgebender Mensch

tja

bleibt die Frage nach dem Rückgrat

mein Fahrrad hat ein neues Hinterrad

...




SehnsuchtistmeineFarbe - 13.11.2008 02:57

Am schlimmsten schmerzt, wenn man nicht gesehen wird. Damit meine ich jetzt nicht nur den angefahrenen Radfahrer, sondern den Menschen an sich. Wenn man "überfahren" oder übersehen wird, dann kommt Wut hoch. So möchte niemand behandelt werden. Ganz menschliche Reaktion also.
An der Schule, auf die ich ging, hat jemand irgendwann mal ein Graffiti an die Wand gesprüht. Da hieß es: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.
Ich kann die Wut absolut nachvollziehen. Und auch den Versuch, das Erlebte in akzeptable Bahnen zu bringen, denn irgendwie muss man ja damit umgehen, um es wieder loslassen zu können.
Mich machen gewisse Leute, Haltungen und Umstände auch sprachlos. Und das, obwohl ich mich als schlagfertig bezeichne. Man muss achten, dass man die Wut dann nicht gegen sich selbst richtet, sondern sie "umleitet" in Sport etc.

bonanzaMARGOT - 13.11.2008 10:11

guten morgen sehnsuchtistmeinefarbe.
ich war damals einfach platt über die frechheit der jungen fahrerin.
der mangelte es ganz einfach am respekt vor dem mitmenschen.
ich hätte noch selbstbewußter auftreten sollen.
eigentlich wollte ich nur eine entschuldigung.
aber die kuh hatte wahrscheinlich tatsächlich nicht mal gemerkt, dass sie mir ans rad fuhr, während sie handyphonierte.

gut dass mir solche dummen geschichten selten passieren. wut, die man runterschlucken muss, schmeckt nach scheußlicher pille. es hilft schon, wenn man seine erfahrung erzählen kann - sonst glaubt man noch, die ganze welt wäre derart verdorben und abgebrüht.
einen teil der wut arbeite ich auch beim "in die pedale treten" ab.
neben der wut wegen eines einzelfalls nagt an mir unterschwellig und permanent eine wut über die arroganz/ignoranz und oberflächlichkeit in unserer gesellschaft. im straßenverkehr wird davon viel sichtbar.
es wäre schon eine bessere welt, wenn die menschen respektvoller und anständiger miteinander umgingen. doch zu sehr gilt selbst in einer zivilisierten gesellschaft das recht des stärkeren.
SehnsuchtistmeineFarbe - 14.11.2008 12:07

guten tag bon,

ob ein selbstsichereres verhalten "geholfen" hätte in dem fall, weiß ich nicht. es ist nicht einfach eine antwort auf die frage zu finden, wie man sich respektlosen und arroganten menschen gegenüber verhalten sollte. (passiert ja meist sowieso spontan). das problem ist ja gerade, dass diese menschen "wie unerreichbar" erscheinen und es auch vielleicht sind. mein eindruck ist eher, dass wenn man ihnen menschlich begegnet, z.b. durch einen satz wie: du hast mir gerade weh getan, weißt du das eigentlich? dann könnte das möglicherweise eine ebene sein, auf der man in kontakt kommt. aber manchmal "gehen solche sätze auch nicht", also sie fallen einem nicht ein oder sie kommen nicht raus etc.
runtergeschluckte wut ist nicht gut, das stimmt. sport ist da wirklich ein guter weg, weil man sonst, in einem gemisch aus zweifel und wut tatsächlich das ganze gegen sich selbst richtet.

wie erklärst du dir, dass diese oberflächlichkeit zustande kommt?
bonanzaMARGOT - 14.11.2008 13:28

guten morgen simf

entschuldige, ich hoffe, du findest die abkürzung nicht respektlos.

die oberflächlichkeit bei menschen hat einen ganzen komplex von gründen.
ich werde ein paar von denen auflisten, die ich erkenne:

- materialistische weltanschauung durch eine von materialismus geprägte umwelt.
- erziehung zu oberflächlichen wertvorstellungen wie ansehen, wohlstand, erfolg, leistung.
- fehlende gesellschaftsethik.
- suggestionen durch werbung in richtung schönheit, jugendlichkeit, leichtlebigkeit.
- verdrängung von lebensängsten - mit dem strom schwimmen.
- angeborener oder anerzogener opportunismus.
- das fehlen einer aufklärerischen grundhaltung.
- mangelnde geistes- und gefühlstiefe - angeboren oder anerzogen.
- schnelllebigkeit der moderne.
- allgemeine orientierungslosigkeit und überforderung in einer stetig komplizierter werdenden welt.
- zu wenig oder falsche leitbilder.
- zu viel reglementierung, zwang.
- ungerechte güterverteilung und bildungschancen.
- zu viel technokratie, bürokratie - führt zur entmenschlichung.
- anonymität in einer überbevölkerten welt durch hektik, egoismus, leistungsdenken.

viele der angeführten punkte bedingen sich oder wirken zusammen.
im großen und ganzen würde ich sagen, wenn ich meine eigene lebenszeit in den blick nehme, dass sich seit den siebzigern die welt um mich herum wesentlich materialistischer gestaltete - damit auch die menschen und die generationen, die in diese "fast-food-welt" hineingeboren wurden materialistischer gesinnt sind als damals. es ist jedenfalls mein eindruck, dass viele veränderungen im alltag durch technik, mobilität und medien zwar einiges erleichterten, aber die welt auch komplizierter machten und den menschlichen faktor zurückdrängten.
ich möchte nicht pauschalisieren, und das bild nicht zu schwarz malen. der kampf in unserer gesellschaft ist härter geworden. viele menschen haben wieder sehnsucht nach ruhe und geborgenheit, menschlicher wärme. leider gibt es auch viele menschen und kräfte, die dem durch rationalisierung, gewinnsucht und technokratischem denken entgegenwirken. ich sehe das auch ganz gut in meiner arbeit als altenpfleger, wie der druck auf den arbeiter immer größer wird. der mensch wird zur ware, zur nummer, zum (heim)platz. immer dreht sich alles ums geld.
es ist grauenhaft, wenn ich näher drüber nachdenke. also fliehe auch ich in eine art opportunismus, in eine oberflächlichkeit ... anders würde ich es nicht ertragen. eigentlich müsste man sich wie die demonstranten gegen den atomtransport nach gorleben an die gleise ketten - im übertragenen sinne: an die gleise dieser entgleisten, unmenschlichen gesellschaft.
dann kann ich freilich meinen beruf an den nagel hängen. und womit verdiene ich mein brot? vielleicht fehlt mir auch einfach der mumm.
ich bin mir zur zeit sehr unsicher.

gruß
bon.
SehnsuchtistmeineFarbe - 14.11.2008 21:40

guten abend bon,

das ist ein guter überblick bezüglich oberflächlichkeit in der gesellschaft. es gibt aber etwas, das ich vermisse, (oder ich habe es überlesen), und das ist die reizüberflutung in mehreren bereichen. vielleicht ist ein grund aber auch, dass manche menschen auch einfach schon ausreichend beschäftigt sind mit "überleben" und haben gar keinen "platz mehr" um sich ausgiebig zu beschäftigen, mit was oder wem auch immer. oder keine lust.
ich hab jetzt zehn mal ungefähr editiert und ich merke, dass es gar nicht so einfach ist, das in worte zu fassen.

ich hab großen respekt vor deiner arbeit. gerade dadurch, dass ausgerechnet im gesundheitlichen bereich sehr viel gespart wird, bleibt sehr viel an den mitarbeitern "hängen". wenn du deinen job gern machst, dann mache ihn weiter (solange du ihn machen willst), denn du hast mit menschen zu tun, die auf dich angewiesen sind.

nicht jeder muss sich anketten. man kann auch geschichten oder gedichte schreiben, diskutieren, demonstrieren, etc. es ist aber genauso wichtig sich um sein leben zu kümmern und sich selbst mit den eigenen bedürfnissen gelten zu lassen.

lg sehnsuchtistmeinefarbe

wenn du gern abkürzen möchtest, dann schreib einfach nur "S", simf klingt so nach computerspiel. *g*
bonanzaMARGOT - 22.11.2008 14:33

wie soll ich wissen, ob ich meine arbeit gern mache, wenn ich mir nicht mal sicher bin, ob ich gern lebe?

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