Er saß tot am Esstisch




nie weiß ich, ob der Tag kommt
der Tag der Umkehr
die Tat, die den Anfang setzt für
eine Periode, eine neue
Periode für irgendwas
für vegetarisches Essen und Diät
für Sport
und
Askese
für geistige Einkehr
Meditation und
konsequentes Handeln
so zäh ist der Fluss von Erkenntnis
nie weiß ich, ob der Tag kommt



er saß tot am Esstisch mit seinen
über Neunzig
für uns blieb es ein Tag wie jeder
andere
keinen Menschen erreiche ich mit meinen Gedanken
drum schreibe ich ein paar auf
als wollte ich die Jahreszeiten überlisten
eine Idee, die nur ein Mensch haben kann
(der Tod ist wie Flasche leer)
ich zog den schlaffen leblosen Mann aus
ich war kein bisschen beunruhigt
ich behandelte ihn fast so, als ob er noch
lebte
und dann war es wie mit einer Puppe
jetzt denke ich: wie undramatisch doch der Tod
daherkommt
im Gegensatz zur Geburt
unsere Anteilnahme ist ein alter Hut
so sehe ich es jetzt
als ob wir nicht wüssten, auf welch dünnem
Eis wir uns bewegen



ich könnte mein Leben lang staunen
was sich da vor meinen Augen abspielt
ein echtes Wunder, dass es das geben soll
ich staune auch über mich
einfach so
stehe bäuchlings am Brückengeländer
darunter braust die Autobahn
stehe am Strand - den Blick zum Horizont
und stehe in der Nacht
die Augen himmelwärts
darüber vergesse ich einiges:
meine Karriere
Preisvergleiche beim Einkaufen
die Telefonrechnung und jede Menge
anderen Alltagskram



mein Gaumen war nach all dem trocken
und du wirst es nicht glauben: der Alkohol hilft
mir selbst Trost zu spenden
Einsamkeit ist nicht verurteilenswert
ich bemitleide mich nicht selbst
ich schlucke mit dem Bier `ne Menge runter
warme Luft verlässt mich aus
mehr als einer Öffnung
und ich bin zufrieden
am Sex klebt immer noch ein Gesicht und
eine Seele
wenn ich in deinen Körper spritze
wenn du schlaftrunken neben mir liegst ...
werde ich nie vergessen




(1998)

Anja-Pia - 13.08.2010 13:23

Eine Ärztin aus meinem Bekanntenkreis hat einmal gesagt, dass ein toter Mensch nur noch wie ein "Ding" ist.

bonanzaMARGOT - 13.08.2010 13:35

nein, das würde ich nicht sagen. ein toter mensch ist ... wenigstens ein sehr seltsames ding. ich erlebe den tod ziemlich zeitnah mit, manchmal bin ich bei den letzten atemzügen dabei. dabei habe ich eher gefühle von erleichterung, friedlichkeit und spüre sogar eine gewisse feierlichkeit ...
sicher wäre der umgang in einer pathologie nochmal anders. da sieht man den menschlichen körper nur noch als objekt, um es aushalten zu können.
ich dagegen habe vielleicht eine stunde vorher diesen menschen noch betreut und gepflegt, die windel gewechselt, ein paar worte mit ihm gewechselt, und finde ihn tot auf ...; wenn ich dann den toten umziehe, noch mal frisch mache (für die angehörigen) ist das ein sehr seltsam berührendes gefühl.

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